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„Wenn der Krieg einmal vorbei ist, fehlen die Eliten, denn die sind alle geflohen“

Auch wenn das Thema dieses Abends etwas außerhalb des gewohnten Rahmens des Kulturkreises lag, so durften sich doch die engagierten Damen aus dem Marienviertel diese Gelegenheit nicht entgehen lassen: Christina ‘Stine’ Sell, Marienkind vom Nöttenkamp und ‘Adviser on Civil Society Relations’ beim Office for Democratic Institutions and Human Rights (ODIHR), einer Unterorganisation der OCZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa), vermittelte den Kontakt zu Christoph Reuter, SPIEGEL-Korrespondent, Islam-Wissenschaftler und profunder Kenner der politischen und sozialen Situation im Nahen Osten.

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Christina Sell, ODIHR’s Adviser on Civil Society Relations, presenting at training in Bucharest on understanding and countering hate crime for civil society organizations in Romania, 2 June 2016 (Quelle: http://www.osce.org/odihr/244721)

Dr. Werner Wenig schreibt über den Abend:

„Wenn man den Islamischen Staat mit einem Wort charakterisieren will, dann ist es der Begriff ’Täuschung‘“. Das sagte am Dienstagabend der Journalist Christoph Reuter, als er im Pfarrheim St. Marien sein preisgekröntes Buch „Die schwarze Macht: Der Islamische Staat und die Strategen des Terrors“ vorstellte. Ursula Bensch freute sich, den Autor im Kulturkreis St. Marien begrüßen zu können. Das hatte sie Stine Sell zu verdanken, die Reuter in Afghanistan kennen lernte und nach Dorsten vermittelte.

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Christoph Reuter gehört zu den wenigen Korrespondenten, die sich im Nahen Osten auskennen. Für die Recherche zu seinem Buch ist er wochenlang von Ort zu Ort gefahren. „Wir haben Informanten in jedem Dorf“, verrät er. „Ich hatte immer einen Syrer dabei, dazu noch einige Leute, die sich in dem betreffenden Gebiet auskennen. Wir fuhren mit nur einem Auto, ich ohne Brille mit langem Bart, um syrisch auszusehen.“ Das erzählt er ganz gelassen, obwohl er sich manches Mal einer Gruppe Dschihadisten mit Kalaschnikows gegenüber sah. Dann liest er aus seinem Buch, als wäre es ein Roman aus dem vorletzten Jahrhundert.

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Lebhafter wird er erst, als er frei über den Aufstieg des IS zu einer sichtbaren Organisation mit staatlichen Strukturen berichtet. Der Zuhörer spürt seine innere Beteiligung, wenn er sein Bemühen um eine überprüfbare, an den Fakten orientierte Berichterstattung schildert. Er erzählt, wie der IS aus den enttäuschten Offizieren und Mitarbeitern von Saddam Husseins Armee und Geheimdienst hervorgegangen ist, wie er Trainingslager für ausländische Kämpfer aufbaute, staatliche Strukturen gründete und eine solide finanzielle Basis schuf. Als er sich stark genug fühlte, eroberte er ein Dorf, eine Stadt nach der anderen. „Wir Journalisten haben uns täuschen lassen“, bekennt er. „Der IS hat uns zu einem verlängerten Arm seiner PR-Abteilung gemacht.“ Doch ihn überrascht es nicht, dass der IS nun wieder schrumpft. „Er hat mit Terror geherrscht. Daher hat er keine wirkliche Anhängerschaft gewonnen.“ Die Zukunft für Syrien sieht er nicht besonders rosig. „Wenn der Krieg einmal vorbei ist, fehlen die Eliten, denn die sind alle geflohen“. (Werner Wenig)

„Die schwarze Macht“ – Der Islamische Staat und die Strategen des Terrors

4. Oktober 2016 : Lesung mit Christoph Reuter
im Pfarrheim St. Marien, Dorsten-Hervest

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Christoph Reuter, geboren 1968, gehört zu den letzten westlichen Journalisten, die noch direkt aus Syrien und dem Nordirak berichten. Der studierte Islamwissenschaftler und „Journalist des Jahres 2012“ spricht fließend Arabisch und berichtet seit Jahrzehnten aus den Krisenregionen der islamischen Welt, zunächst für Die Zeit und den Stern, seit 2011 als Korrespondent für den SPIEGEL. Neben zahlreichen preisgekrönten Reportagen veröffentlichte er u. a. die Bücher „Mein Leben ist eine Waffe“ (2002) über Selbstmordattentäter und, gemeinsam mit Susanne Fischer, „Café Bagdad“ (2004) über den Alltag im umkämpften Irak.

SPIEGEL-Korrespondent Christoph Reuter zeichnet den präzise geplanten Aufstieg der Dschihadisten nach und stößt zu den Wurzeln des Terrors vor – im zerfallenden Irak, im syrischen Bürgerkrieg und in den vielfältigen Konflikten der Region, die die Strategen des Terrors geschickt für ihre Zwecke zu nutzen wissen.

IS, der »Islamische Staat«, ist weit mehr als die gefährlichste Terrorgruppe der Welt. Er ist eine Macht, die ein zuvor ungekanntes Maß an Perfektion zeigt – in seinem Handeln, seiner strategischen Planung, seinem vollkommen skrupellosen Wechsel von Allianzen und seiner präzise eingesetzten Propaganda. Der Glaube wird von den Dschihadisten zwar demonstrativ zur Schau getragen, ist für die Strategen des IS jedoch nur eines unter vielen Mitteln, ihre Macht zu erweitern.

Reuter
© Emin Özmen / DER SPIEGEL

Christoph Reuter zeigt eindrucksvoll, wie der IS so große Gebiete in Syrien und im Irak erobern konnte und wer den Dschihadisten dabei in die Hände spielte. Sein Buch stützt sich auf bislang unbekannte Dokumente, vielfältige Kontakte und jahrelange Recherchen in der Region. Es bietet ungewohnte Einblicke in die Entstehung und Entwicklung des »Islamischen Staates« und macht vor allem eines deutlich: Wir sollten uns von der Propaganda des IS nicht täuschen lassen. Denn die Terrororganisation ist in vielem anders, als wir denken.

»Reuter ist es gelungen, einen immensen Fundus an Material anschaulich und scharfsinnig zu einem packenden Sachbuch zu verdichten.« (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.05.2015)

St.-Marien-Pfarrheim
Dienstag, 04.10.2016 um 20.00 Uhr
Eintritt: 15,00 €, Kinder, Schüler und Studenten: 5,00 €

Konzert mit József Lendvay, seinem Ensemble und dem Alliage-Quintett

Auch Webmaster machen Urlaub; daher gibt es diese schöne Fotogalerie erst gut drei Wochen nach dem Konzert. Die Besprechung von Werner Wenig und die lobenden Worte des Bürgermeisters für das Konzert und die Aktivitäten des Kulturkreises finden Sie auch unter den Kommentaren.

Besprechung des Konzerts in der Dorstener Zeitung:

Tosender Applaus, Standing Ovations, Bravo-Rufe. Im Anschluss an das Konzerts in St. Marien am Freitagabend konnte sich das Publikum einfach nicht beruhigen. Über eine halbe Stunde Zugaben spielten der Geiger József Lendvay, seine Begleiter Peter Menyhart (Gitarre), Szabolcs Sallai (Cimbalon) und Cornelius Puican (Bass) sowie das Alliage Quintett Daniel Gauthier, Huyrapet Araklian, Simon Hauroth, Sebastian Pottmeyer und Jang Eun Bae am Piano. Was war passiert? Eigentlich war es so wie immer. Nach einführenden Worten von Ursula Bensch und Bürgermeister Tobias Stockhoff, die beide voll des Lobes über den Auftakt der Konzerte des Festivals „musik:landschaft westfalen“ und seines Organisators Dirk Klapsing waren, begannen die Musiker mit Stücken aus ihrem Programm „Dancing Paris“ wie Hoe Down from Rodeo von Aaron Copland oder Le boef sur le toit von Darius Milhaud. Schöne Stücke, gut gespielt und vom Publikum entsprechend goutiert. Polytonale Musik folgte, dekohärent und entsprechend ungewohnt.
Doch nach der Pause ging es los. Die Musiker waren schon voller Vorfreude und Tatendrang, wie sie der Dorstener Zeitung verrieten. Doch die Zuhörer waren arglos, aus gutem Grund, denn es sollte eine Überraschung werden. Die wurde es dann auch fürwahr. Mit riesiger Spielfreude und wahrer Begeisterung spielten sie ungarisch-rumänische Tänze sowie Alliage-Stücke aus ungarisch-kanadisch-rumänisch-französischen Komponenten. Herausragend war Szabolcs Sallai mit seinem Cimbalo. Mit zwei Stöcken, an den Enden mit Stoff umwickelt, schlug er die Saiten direkt an und zauberte wunderbare Melodien in vielen Variationen. Es war eine absolut herausragende Leistung, die von den anderen Musikern auf das Schönste unterstützt wurde. „Wir haben das extra für unseren Auftritt in St. Marien vorbereitet“, erklärte Sebastian Pottmeier, der Sprecher der Gruppe. „Dabei wird viel improvisiert.“ Das gelang ihnen fürwahr in herausragender Weise. Als sie endeten, hatten die Zuhörer längst noch nicht genug von dieser Musik gehört. Also verlängerten die Musiker einfach ihren Auftritt. Es war ihnen anzumerken, dass sie selbst viel Vergnügen an ihrem Spiel hatten.
(Dr. Werner Wenig, Dorstener Zeitung)

Bürgermeister Tobias Stockhoff schrieb uns:

Liebe Frau Bensch,
ich möchte mich noch einmal sehr herzlich bedanken für die Einladung zu diesem wunderbaren Konzert mit Geiger Jozsef Lendvay, seinen Begleitern und dem Alliage-Quintett in der Marienkirche. Ich habe die Musik genau so empfunden, wie Werner Wenig das Konzert in der Dorstener Zeitung beschrieben hat: Es war ein berauschender Abend. Der Kulturkreis St. Marien hat dabei einmal mehr bewiesen, dass es lohnt, sich nach der Decke zu strecken, dass es möglich ist, große Namen in das ,,kleine“ Marienviertel zu locken. Das Gesamtkonzept ist eine wirkliche Bereicherung im Kulturleben der Stadt.
Dass die St. Marienkirche dabei neben illustren Stätten wie den Schlössern in Raesfeld und Ahaus zu einem Spielort der Musiklandschaft Westfalen geworden ist, dürfen Sie und Ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter sicherlich als besondere Würdigung Ihrer Arbeit auffassen.
Ich freue mich auf weitere Beiträge dieser Art zum kulturellen Leben in unserer Stadt.

Mit freundlichen Grüßen
Tobias Stockhoff
Bürgermeister
Stadtverwaltung Dorsten

Peter Körber, bekannter Dorstener Fotograf und dem Kulturkreis herzlich gewogen, machte die folgenden Bilder,  die eindrucksvoll zeigen, wie gut die Idee war, vor dem Konzert einen Imbiss inkl. Platzreservierung anzubieten: Die Gelegenheit zum SmallTalk wurde gerne angenommen, die erfrischenden Getränke waren an diesem warmen Sommerabend herzlich willkommen.
Was Peter Körbers Bilder ebenfalls eindrücklich belegen: die Musiker waren mit Freude und Herzblut ‘bei der Sache’!
Aber schauen Sie selbst:

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26. Juni 2016: Duo Tango Tambien

 

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Sie haben in Argentinien gespielt, im Landesjugendorchester Nordrhein-Westfalen und im Aachener Dom. Studiert haben sie klassische Musik, doch Annette Coêlho und Andrea Gémes ließen es dabei nicht bewenden. Beide entdeckten bald nach dem Studium ihre Liebe zum Tango, und was lag da näher, als dieses Genre in ihr Repertoire aufzunehmen. Am Sonntagabend traten die beiden Musikerinnen in der Kirche St. Marien mit dem Programm „Duo Tango También – Von Bach bis Piazolla“ auf. „Tango, das ist Intensität, brillanter Rhythmus und verträumte Poesie“, verkündete Ursula Bensch in ihrer Anmoderation, und Andrea Gémes ergänzte: „Tango steht für Leidenschaft, Melancholie, Sinnlichkeit und Eleganz.“ Bei so viel Lob für diese Musik waren die Zuhörer, die trotz des Fußballspiels Deutschland-Slowakei gekommen waren, gespannt. Sie wurden nicht enttäuscht. Ob es nun die Hamburger Sonate von Carl Philipp Emanuel Bach, Polacca von Nicola Paganini, Vamo Nessa von Celso Machado oder Milonga final von Fernando Millet war, sie spielten alle Stücke mit der gleichen Leidenschaft und der gleichen Präzision. Annette Coêlho auf der Querflöte, Andrea Gémes auf der Gitarre. Beide Musikerinnen beherrschen ihre Stücke perfekt, sicher und mit viel Vergnügen. Annette Coêlho fällt auf durch gelegentliche Improvisationen und Variantenreichtum. Andrea Gémes geht mit ihrem Instrument um, als wäre es ein Teil von ihr. Die Soli, wie Candombe en mi von Máximo Diego Pujol, sind ein Schmaus für die Ohren. Das lässt die Zeit vergessen, der Zuhörer träumt sich in eine fremde Welt und in ein Klanggebäude, das wahrhaftig voller Sinnlichkeit und Eleganz ist. Dazu gehören natürlich auch die Stücke des Altmeisters des Tango Nuevo, Astor Piazolla. Zuerst das in Erinnerung an seinen Vater geschriebene „Adios Nonino“, aber auch die epischen Stücke „Nuevo mundo, Suavidad und Café 1930“ sowie „Nightclub 1960“. Annette Coêlho und Andrea Gémes lassen diese Musik leben, sie erzeugen ein inneres Bild einer lebendigen Gesellschaft Südamerikas, das eine Seele hat und einen Geist. Kein Wunder, dass die Zuhörer gleich zwei Zugaben forderten.    (Text: Dr. Werner Wenig)

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Alle Fotos: Peter Körber Industriefotografie. Herzlichen Dank!