Auch wenn das Thema dieses Abends etwas außerhalb des gewohnten Rahmens des Kulturkreises lag, so durften sich doch die engagierten Damen aus dem Marienviertel diese Gelegenheit nicht entgehen lassen: Christina ‘Stine’ Sell, Marienkind vom Nöttenkamp und ‘Adviser on Civil Society Relations’ beim Office for Democratic Institutions and Human Rights (ODIHR), einer Unterorganisation der OCZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa), vermittelte den Kontakt zu Christoph Reuter, SPIEGEL-Korrespondent, Islam-Wissenschaftler und profunder Kenner der politischen und sozialen Situation im Nahen Osten.
Dr. Werner Wenig schreibt über den Abend:
„Wenn man den Islamischen Staat mit einem Wort charakterisieren will, dann ist es der Begriff ’Täuschung‘“. Das sagte am Dienstagabend der Journalist Christoph Reuter, als er im Pfarrheim St. Marien sein preisgekröntes Buch „Die schwarze Macht: Der Islamische Staat und die Strategen des Terrors“ vorstellte. Ursula Bensch freute sich, den Autor im Kulturkreis St. Marien begrüßen zu können. Das hatte sie Stine Sell zu verdanken, die Reuter in Afghanistan kennen lernte und nach Dorsten vermittelte.
Christoph Reuter gehört zu den wenigen Korrespondenten, die sich im Nahen Osten auskennen. Für die Recherche zu seinem Buch ist er wochenlang von Ort zu Ort gefahren. „Wir haben Informanten in jedem Dorf“, verrät er. „Ich hatte immer einen Syrer dabei, dazu noch einige Leute, die sich in dem betreffenden Gebiet auskennen. Wir fuhren mit nur einem Auto, ich ohne Brille mit langem Bart, um syrisch auszusehen.“ Das erzählt er ganz gelassen, obwohl er sich manches Mal einer Gruppe Dschihadisten mit Kalaschnikows gegenüber sah. Dann liest er aus seinem Buch, als wäre es ein Roman aus dem vorletzten Jahrhundert.
Lebhafter wird er erst, als er frei über den Aufstieg des IS zu einer sichtbaren Organisation mit staatlichen Strukturen berichtet. Der Zuhörer spürt seine innere Beteiligung, wenn er sein Bemühen um eine überprüfbare, an den Fakten orientierte Berichterstattung schildert. Er erzählt, wie der IS aus den enttäuschten Offizieren und Mitarbeitern von Saddam Husseins Armee und Geheimdienst hervorgegangen ist, wie er Trainingslager für ausländische Kämpfer aufbaute, staatliche Strukturen gründete und eine solide finanzielle Basis schuf. Als er sich stark genug fühlte, eroberte er ein Dorf, eine Stadt nach der anderen. „Wir Journalisten haben uns täuschen lassen“, bekennt er. „Der IS hat uns zu einem verlängerten Arm seiner PR-Abteilung gemacht.“ Doch ihn überrascht es nicht, dass der IS nun wieder schrumpft. „Er hat mit Terror geherrscht. Daher hat er keine wirkliche Anhängerschaft gewonnen.“ Die Zukunft für Syrien sieht er nicht besonders rosig. „Wenn der Krieg einmal vorbei ist, fehlen die Eliten, denn die sind alle geflohen“. (Werner Wenig)